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Was Experten sagen

Zahlreiche Experten haben sich mit dem Thema „Eltern-Kind-Entfremdung“ in ihrem jeweiligen Fachbereich beschäftigt. Ihre Erfahrungen, ihre dezidierte Meinung teilen sie hier mit uns.

Dr. Stefan Rücker ist Psychologe und leitet die Forschungsgruppe PETRA sowie die Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen.

Eltern-Kind-Entfremdung als Risikofaktor
für emotionalen Kindesmissbrauch
Dr. Stefan Rücker

„Wer in einem dunklen Raum in einem Buch lesen kann bringt wichtige Eigenschaften mit, das oft verdeckte Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung zu erkennen. Kinder in Trennungskontexten ziehen sich scheinbar aus guten Gründen aus einer intakten Eltern-Kind-Beziehung zurück, und der betreuende Elternteil gibt sich ratlos und beteuert, mit dieser merkwürdigen Entwicklung nichts zu tun zu haben. Vielmehr noch garantieren entfremdende Elternteile oft, das Kind dürfe zum anderen Elternteil, aber es wolle ja nicht, und schließlich könne man es nicht zwingen. In Gesprächen dieser Art fragt man sich was dieselben Elternteile tun würden, wenn das Kind den Schulbesuch verweigert, oder die Nahrungsaufnahme. In der Summe jedenfalls weisen entfremdende Elternteile jede Verantwortung von sich, während entfremdete Kinder den Kontakt zum anderen Elternteil verweigern. Da kann man nichts machen, oder!?
    Zugegeben, die Gemengelage ist meist komplex und überdies gibt es berechtigte Gründe von Kindern, Distanz zu Elternteilen aufzubauen. Mit geeigneten Methoden lassen sich Anzeichen für eine tatsächliche Entfremdung jedoch sichtbar machen. Die Prämisse in diesem Bereich lautet ,schau genau‘. Entfremdende Elternteile weisen in der Regel spezifische Merkmale auf, entfremdete Kinder ebenfalls. Beispielsweise berichten betroffene Kinder meist auf zwei Ebenen über den Konflikt: Auf der manifesten, und auf der latenten! Oder anders gesprochen: Auf der manifesten Ebene verbalisieren die Kinder zwar ihre Abneigung gegen einen Elternteil; emotional und verhaltensbezogen erzählen die Kinder häufig jedoch eine ganz andere Geschichte.
    Wie beispielsweise die zwei seit Jahren entfremdeten Jungen, die sich im Gespräch fortwährend über Augenkontakt bei der Mutter rückversichern, nichts Falsches zu sagen und die behaupten, der Vater sei ihnen vollkommen egal. Die allerdings bei der Nachricht, dass der Vater sich partnerschaftlich neu gebunden hat panisch und weinerlich reagieren und stammeln, dass der Vater dann ja bald neue Kinder haben werde und sie selbst nicht mehr brauche. Gleichgültigkeit sieht anders aus! Aber dies ist nur ein Hinweis neben vielen und überdies nicht repräsentativ, denn auch Väter entfremden. Jenseits dieser bedrückenden Szene nehmen Kinder generell Schaden durch Eltern-Kind-Entfremdung. Klinische Studien beispielsweise aus den Bereichen der Neurobiologie, der Kinderpsychopathologie und aus der Bindungsforschung zeigen ein deutlich erhöhtes Entwicklungsrisiko für entfremdete Kinder, wobei Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten sowie Alkohol- und Drogenerkrankungen dominieren. Die Folgen reichen oft über das gesamte Leben der Betroffenen.
    Eltern-Kind-Entfremdung stellt ein seelisches Verbrechen an Kindern dar, ebenso wie körperliche Misshandlung! Das Tragische bei der induzierten Entfremdung ist allerdings, dass die Folgen im Vergleich zur körperlichen Misshandlung nicht unmittelbar sichtbar sind. Umso wichtiger, dass im Sinne einer guten Praxis zum Schutz von Kindern adäquate, empirisch abgesicherte Analysemethoden in Fällen mit Entfremdungsverdacht zum Einsatz kommen. In diesem Zusammenhang sind alle beteiligten Fachdisziplinen gefordert!“

Der Tumor von Eltern-Kind-Entfremdung
Dr. Hans-Peter Dürr

Krebserkrankungen kommen nicht über Nacht und nicht von allein, sondern entzünden sich aus dem Funken einer Mutation und brauchen oft Jahre bis zum Ausbruch der Erkrankung. Ebenso verhält es sich mit Eltern-Kind-Entfremdung – es kommt nicht über Nacht, wenn ein Kind sagt, es wolle den Vater oder die Mutter nicht mehr sehen oder nichts mehr mit ihr/ihm zu tun haben.
    Bösartige Verläufe von Eltern-Kind-Entfremdung lassen Kinder über ihren Vater oder ihre Mutter sagen „es wäre mir lieber er wäre tot“, oder „sie soll aus meinem Leben verschwinden“. Für Entfremdung gilt dabei dasselbe wie für Krebserkrankungen: will man sie verhindern, darf man nicht bis zur Therapie warten, sondern muss sich um Prävention und Früherkennung kümmern.
    Das KiMiss-Institut und die Universität Tübingen haben ein Instrument zur Früherkennung von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung entwickelt, das sogenannte KiMiss-Instrument. Von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung spricht man, wenn die Entfremdung eines Elternteils auf die Beeinflussung des Kindes durch den anderen Elternteil zurückgeführt werden kann.
    Dieses Instrument bietet Früherkennung auf der Basis der oft subtilen und perfiden Elemente eines leise geführten Beziehungskrieges, in welcher das Kind zur Waffe gemacht wird: wenn das 3-jährige Kind den Anruf des anderen Elternteils erwartet, aber das Telefon ausgesteckt wird; wenn die Wochenenden des 6-jährigen Kindes beim anderen Elternteil durch mannigfaltige Lügen verhindert werden; wenn dem 9-jährigen Kind gesagt wird, dass der andere Elternteil es vor der Geburt „nicht wollte“, usw. Dem KiMiss-Instrument liegt dazu eine Liste von 150 Verhaltensweisen zugrunde, die bei Elternkonflikten zu untersuchen sind.
    Warum muss ein Instrument zur Früherkennung von induzierter Eltern-Kind-Entfremdung eine Vorhersage aus dem Verhalten der Eltern ableiten, warum können wir dies nicht direkt am Kind untersucht? Dies hat einen einfachen Grund: hat der Prozess der Entfremdung beim Kind bereits eingesetzt, dann ist oft schon zu spät. Auch ein Instrument zur Früherkennung von Krebs darf nicht erst dann ausschlagen, wenn der Tumor damit begonnen hat, sich seinen Weg zu bahnen.
    Das KiMiss-Institut hat viele Elternteile betreut, die von beginnender oder fortschreitender Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind. Einer der häufigsten Sätze dieser Betroffenen ist: „Die sagen alle, sie könnten nichts mehr tun“. Es sei zu spät. Die? Damit waren Familiengerichte, Jugendämter, Beratungsstellen oder Verfahrensbeistände und Sachverständige gemeint. 
    Viele der Betroffenen sehen ihre Kinder dann über Jahre hinweg nicht mehr. Ihre Weihnachts-Päckchen für die Kinder werden ihnen nach Neujahr ungeöffnet zurückgeschickt und die entsorgten Elternteile denken jeden Tag mehrmals beim Blick auf das Telefon: „vielleicht wendet sich ja das Blatt heute und mein Kind ruft mich an“. Jahre zuvor waren die Anzeichen für Eltern-Kind-Entfremdung schon erkennbar – sie wurden jedoch nicht ernst genommen.
    Induzierte Eltern-Kind-Entfremdung zerstört das gemeinsame Leben zwischen einem Kind und seinem Vater oder seiner Mutter. Es handelt sich um eine schwere Form von Kindesmisshandlung und emotionalem Missbrauch mit oft lebenslangen Schädigungen oder Beeinträchtigungen für das Kind. Die auch heute noch weit verbreitete Unterbewertung von emotionalen und psychischen Misshandlungs-Formen stellt in Wirklichkeit eine systematische Leugnung dieser Gewalt gegen Kinder dar.
    Es gibt heute viele Menschen, denen durch Krebsvorsorge die Antwort erspart werden konnte: „Wir können nichts mehr tun“. Auch bei Familiengerichten, Jugendämtern und ihren Verfahrensbeteiligten müssen sich Entwicklungen auftun, dass sie Eltern und Kindern diesen Satz nicht mehr sagen müssen. Vor allem müssen wir Eltern-Kind-Entfremdung endlich als das begreifen, was es ist: eine psychische Form der Misshandlung und eine Form von inner-familiärer Gewalt an Kindern.
    Früherkennung von Eltern-Kind-Entfremdung ist ebenso möglich, wie in anderen Bereichen der medizinischen Diagnostik – solche Methoden müssen eingesetzt werden, wenn der emotionale Missbrauch von Kindern und die psychischen Formen von häuslicher Gewalt ein Ende haben sollen und wir eine Gesellschaft wollen, in welcher wir uns mit Verantwortung und Wohlwollen für eine lebenswerte Zukunft unserer Kinder einsetzen.

PD Dr. Hans-Peter Dürr ist Leiter des KiMiss-Projektes, Universität Tübingen
Anna Pelz
Soziologin (M.A.)
systemische Therapeutin
Elterncoach mit den Schwerpunkten
Eltern-Kind-Entfremdung,
Trennung, Nachtrennungsfamilie

„Eltern-Kind…was? Nie gehört…“
Anna Pelz

So oder so ähnlich lautet in aller Regel die Reaktion der meisten Menschen, wenn ich das Thema Eltern-Kind-Entfremdung (EKE) anspreche. „Na ja. Wieder so eine Mode-Diagnose aus Amerika.“ So oder so ähnlich wiederum die Reaktion noch immer erschreckend vieler Fachleute. Dabei ist die Eltern-Kind-Entfremdung ein gesellschaftliches Phänomen, dass in Deutschland jährlich schätzungsweise ca. 30 000 bis 60 000 Kinder (je nach Quelle) betrifft. EKE ist mittlerweile gut erforscht und seit 2019 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als psychische Kindesmisshandlung anerkannt. 

Aber was ist diese Eltern-Kind-Entfremdung eigentlich?
Es ist eine ausnahmslos alle soziale Schichten übergreifende Begleiterscheinung vieler konflikthafter Trennungen. Ein unschönes Beziehungs-Finale, unschönes Aus, die Liebe wird zu Hass, Hass erzeugt Wut, Wut macht blind. Ist ein Kind da, wird es spätestens dann als die letzte noch funktionierende Waffe im Kampf gegen den/die verhasste/n Ex eingesetzt: die Kontakte und Umgänge zwischen dem Kind und dem/der Ex werden sabotiert, das Kind gezielt aufgehetzt, so dass es diesen Elternteil bald „ganz von selbst“ ablehnt. Bis dahin ist alles in aller Regel kaum wahrnehmbar, da ausgrenzende Elternteile nach Außen eine perfekte Fassade präsentieren. Und die blauen Flecken auf einer Kinderseele, die durch EKE entstehen und von versierten Expertinnen und Experten bereits vielfach beschrieben wurden, sind auf den ersten Blick ohnehin unsichtbar.
    Entfremdung kann sehr subtil vollzogen werden. Durch kleine spitze Bemerkungen, schiefe Blicke oder ein abruptes Verlassen des Raums, wenn das Kind den anderen Elternteil erwähnt. Ein Zwei-Finger-Griff und ein vor Ekel verzogenes Gesicht, wenn ein Spielzeug „von ihm/von ihr“ angefasst wird. Fragen, ob das Kind den Papa/die Mama anrufen möchte – mit hochgezogenen Augenbrauen und eisiger Stimme. Kleinigkeiten eben, denen kaum jemand eine Bedeutung zuschreibt.
    Was einen Elternteil zu einem solchen Verhalten animiert? In aller Regel sind es Abgründe, in die kein Mensch gern hineinschaut. Vom Hass und Rachesucht über Unwissenheit, Angst vor dem Verlassen werden bis hin zu psychischen Erkrankungen wie Borderline. Nicht selten spielen die Ereignisse aus der eigenen Kindheit des Elternteils eine Rolle: autoritäre Erziehung, Suchtproblematik der eigenen Eltern oder ihre psychischen Erkrankungen, Gewalt (auch sexualisierte oder psychische Gewalt), Vernachlässigung, Liebesentzug. Abgründe, die aber jemanden, der darin aufgewachsen ist und diese überlebt hat, dazu verleiten können, auch andere hineinziehen zu wollen. Eine Art Hilferuf. Sieh hin, so ging es mir. Das Tragische daran: wird diesen Elternteilen Hilfe angeboten, wird diese in aller Regel abgelehnt. Man brauche keine Hilfe. Es laufe doch alles wunderbar, wäre da nicht diese/r Ex. Er/sie allein sei der Störfaktor.
    Es kommt Ihnen bekannt vor? Das kann gut sein. Bestimmt kennen Sie einige alleinerziehende Mütter oder Väter in Ihrer Umgebung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen Sie damit mindestens ein Kind, das Opfer der Eltern-Kind-Entfremdung ist. Und Sie kennen mindestens eine Täterin oder einen Täter. Schauen Sie nicht weg, wenn Sie Anzeichen von EKE bemerken. Setzen Sie sich für eine nachhaltige und positive Beziehung des Kindes zu beiden Eltern ein. Kinder brauchen beide Eltern.

Emotionale Titanic
Dr. Hamid Peseschkian

Eine Trennung oder Scheidung mit Kindern ist (fast) immer ein emotionaler Untergang. Es ist eine Situation, die niemand sich selbst oder seinen Kindern wünscht. Aber es passiert recht häufig – und ca. 200.000 minderjährige Kinder in Deutschland sind pro Jahr davon betroffen. Das ganze Leben ändert sich. Nun ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass Menschen miteinander kommunizieren, über sich und andere reflektieren und nach Lösungen Ausschau halten könn(t)en.
    Am Wiesbadener Psychotherapiezentrum, einer der größten ambulanten Psychotherapie-Einrichtungen Deutschlands, werden Patienten aller Altersgruppen behandelt, darunter über 500 Kinder und Jugendliche. Viele kommen in der Tat aus Trennungssituationen. Bei einigen geht es um Trennungsängste und Anpassung an die neue Lebenssituation; dies lässt sich therapeutisch meistens gut behandeln. Die schwierigen und leider auch häufigeren Fälle sind jedoch, wenn wir Therapeutinnen und Therapeuten uns mit dem Streit zwischen den getrennten Eltern auseinandersetzen müssen, und uns wehren müssen, auch in den Sog des Untergangs einbezogen zu werden.
    Trotz der großen Kränkungen und Verletzungen nach einer Trennung, vergessen viele Eltern, einige Basics, die zeigen, wie sinnlos, destruktiv und masochistisch das Trennungsverhalten der Eltern häufig ist: Da Kinder schon rein genetisch betrachtet, je zur Hälfte mütterliche und väterliche Anteile haben, sind Aussagen, wie: „Hoffentlich wirst du nicht wie dein Vater“ völlig fehl am Platz. Aus psychodynamischer Sicht ist jedoch das Schlimmste, der Einfluss dieser Elternaktionen auf das spätere Selbstwertgefühl der Kinder: Das sich meine Eltern getrennt haben, schmerzt. Aber, dass ich einen von beiden nie mehr wiedersehe oder wiedersehen darf, dies ist ein Verlust, der einem Tod gleichkommt. Als getrennter oder geschiedener Partner kann ich sagen, „ich hoffe, dass wir uns nie mehr sehen“, „du kannst mir gestohlen bleiben“, „du bist für mich gestorben“. Aber wie soll ein Kind ein gesundes Selbstbild, ein Männer- und Frauenbild für spätere Beziehungen entwickeln, wenn 50% nicht nur fehlen, sondern schlecht sind?
    Wir erleben dies tagtäglich, dass einige Eltern über Jahre ein solches destruktives Verhalten an den Tag legen, sich von keinem Gericht etwas sagen lassen, die Bedürfnisse ihres Kindes völlig vernachlässigen – und hoffen, dass sie dadurch das Kind auf ihre Seite ziehen können. Nun werden Kinder größer und älter, und sind mit 18 Jahren in Deutschland volljährig. Wie oft erleben wir es bei Therapien, dass Jugendliche oder junge Erwachsene nicht nur froh sind, aus den „Klauen“ des besitzergreifenden Elternteiles entkommen zu sein, sondern dann auch die Beziehung zu dem bisher vermissten Elternteil (meistens dem Vater) aufbauen und dadurch die Geschichten, die sie jahrelang gehört haben, sich völlig relativieren („so schrecklich ist doch mein Vater gar nicht“, „jetzt verstehe ich, dass meine Mutter ihn gar nicht an mich herangelassen hat“).
    Und, das Ergebnis: Alle haben verloren! Das Kind ist emotional gestört, hat ein niedriges Selbstwertgefühl, Probleme im Leben und mit Beziehungen zurecht zu kommen; das spaltende Elternteil hat kaum mehr Kontakt zum Kind (denn um das Kind ging es nie, sondern um die eigene Kränkung und um Machtspiele); und das andere Elternteil hatte sowieso keinen Kontakt mehr zu dem Kind.
    Wenn Menschen ihre Selbstreflexion und ihr Konfliktlösungspotenzial nicht verwenden wollen, dann muss in diesen Fällen aufgrund der Kindeswohlgefährdung, im Rechtsstaat der Gesetzgeber und/oder die Gerichte einschreiten. Einem Kind ein Elternteil vorzuenthalten ist Kindeswohlgefährdung! Ich bin seit vielen Jahren ein Befürworter der sog. Doppelresidenz, und in einer Zeit von Homeoffice, konnten viele frühere Hürden abgebaut werden. Wenn ein Kind erlebt, dass die Eltern trotz partnerschaftlicher Trennung noch Eltern geblieben und verfügbar sind, dass ist zwar das Schiff untergegangen, aber mit Hilfe von Rettungsbooten kann ich neue Ufer erreichen.

Dr. med. habil. Hamid Peseschkian ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor des Wiesbadener Psychotherapie-Zentrums (WIAP)
Beate Blasius ist Psychologin

Eltern-Kind-Entfremdung ist vom Wesen her
eine Form familiärer Gewalt – mit Folgen
Beate Blasius

Von einem geliebten Menschen getrennt zu werden und ihn nicht mehr lieben zu dürfen ist eine der schlimmsten Erfahrungen für Kinder. Die negativen Folgen können sehr lange Schatten auf ihr gesamtes Leben werfen. Ein Beispiel: „Ich bin jetzt 42 Jahre alt, komme nicht mehr mit mir klar. Ehe gescheitert. Probleme im Job. Ständig bin ich krank. Ich brauche Hilfe.“
    So oder ähnlich beginnt ein Erstkontakt mit einer KlientIn, die als Kind vom geliebten Elternteil entfremdet wurde. Er/sie steht vor einem Scherbenhaufen, kann sich nicht erklären, warum. Klar ist, so kann es nicht mehr weitergehen. Wir wollen zunächst verstehen, wie es dazu kommen konnte. Dazu begeben wir uns auf eine Forschungsreise, erkunden den „Familienstammbaum“, das System in dem wir, unsere Eltern und deren Eltern aufgewachsen sind. Wir ergründen, wie die Dinge auch transgenerational ineinander verschachtelt sind und uns zu dem machten, was und wer wir heute sind, wie wir denken, fühlen und handeln. Wir fragen uns: Wie kam es zu dieser Schieflage in meinem Leben? Welche Funktion haben meine Symptome (Angst, Depression, chronische Erschöpfung, Sucht, Reizdarm ,…,)? Warum kann ich nicht vertrauen? Wieso muss ich ständig mich oder andere abwerten? Ich habe tiefsitzende Schuldgefühle, warum? Im Gespräch mit Vorgesetzten fühle ich mich unangemessen ohnmächtig, ich weiß doch, dass ich LeistungsträgerIn bin, warum ist das so?
    Wenn wir uns als gescheiterte Erwachsene solchen Fragen stellen und allmählich die Dynamiken in ihrer natürlich gewachsenen und stetig wechselseitigen Wirkung erkennen, dann können wir nach und nach die damals erzwungene Abspaltung vom geliebten Elternteil verarbeiten, integrieren und dem Leben dann eine neue, heilsame Richtung geben.

Eltern-Kind-Entfremdung ist eine grausame, lebensprägende Gewalterfahrung! Ihr muss frühzeitig begegnet werden!

Eltern-Kind-Entfremdung ist eine ernst
zu nehmende Form 
von
psychischer Kindesmisshandlung
Dr. med. Wilfrid v. Boch-Galhau i. R.

Induzierte Eltern-Kind-Entfremdung, die nicht behandelt wird, kann zu traumatischen psycho-physischen Langzeitfolgen bei betroffenen Kindern führen. Dieser Tatsache wird in familiengerichtlichen Verfahren noch unzureichend Beachtung geschenkt. Der in „Neuropsychiatrie“ (2018) 32 (3): 133 – 148 peer-reviewed erschienene Artikel befasst sich zusammenfassend mit der Definition, der Symptomatik und den verschiedenen Schweregraden von Parental Alienation und beschreibt einige wichtige Entfremdungstechniken und mögliche psychosomatische und psychiatrische Folgen der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung. Schließlich wird auf Präventions- und Interventionsprogramme hingewiesen, die inzwischen in einigen Ländern angewandt und evaluiert werden. Zwei Fallbeispiele aus der Praxis und ein ausführliches, internationales Literaturverzeichnis schließen die genannte Arbeit ab: https://doi.org/10.1007/s40211-018-0267-0.
    Bei der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation) handelt es sich um eine bestimmte Form von psychischer Kindesmisshandlung, die im DSM-5, dem aktuellen Diagnostic and Statistic Manual der American Psychiatric Association (APA) unter der Diagnoseziffer V 995.51 und in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-11 unter der Diagnoseziffer QE82.2 „child psychological abuse“ verortet ist.

Dr. med. Wilfrid v. Boch-Galhau i. R. ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie
Dr.med. Dieter Katterle ist Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin, Psychoanalyse
Ärztlicher Leiter des Zentrums für Psychotherapie am Medic-Center Nürnberg

Nach außen benötigt der ausgrenzende Elternteil das Kontaktverbot zum ausgegrenzten Ex-Partner, nicht nur um z.B. Rache für in der Beziehung erlittene Kränkungen zu üben und finale Macht zu demonstrieren, sondern auch und besonders, um die verurteilende Fake-Botschaft vom »bösen Vater« oder von der »grauenhaften Mutter« keinem informatorischen Abgleich an der Realität auszusetzen.
Dr.med. Dieter Katterle

Eine pathologische Eltern-Kind-Entfremdung potenziert den Schaden für das Trennungskind erheblich im psychosozialen Bereich. Der ausgegrenzte Elternteil geht nicht nur nach außen verloren, sondern wird als verbotenes Objekt nach innen gelöscht.
    Nach innen bedeutet dies die Abspaltung der Hälfte der Identität des Kindes einschließlich der verbotenen positiven Gefühle, Erinnerungen und Bilder an gemeinsame Jahre. Die Folgen: ein unklarer Selbstbezug, ein Trauerverbot und eine signifikante Selbstwertregulationsstörung.
    Nach außen benötigt der ausgrenzende Elternteil das Kontaktverbot zum ausgegrenzten Ex-Partner, nicht nur um z.B. Rache für in der Beziehung erlittene Kränkungen zu üben und finale Macht zu demonstrieren, sondern auch und besonders, um die verurteilende Fake-Botschaft vom „bösen Vater“ oder von der „grauenhaften Mutter“ keinem informatorischen Abgleich an der Realität auszusetzen. Denn dies könnte zur Infragestellung der offiziellen Doktrin vom dämonisierten „Anderen“ führen und verhindern, dass sich beim gemeinsamen Kind das neue Feindbild dauerhaft und unwiderlegbar festsetzt.
    Wir kennen dieses Phänomen aus der Geschichte und aus aktuellen Nachrichten: Totalitäre Staaten setzen das Mittel einseitiger fanatischer Hetze ein und verbieten die Nutzung alternativer Informationsquellen, damit das totalitäre Narrativ im Bewusstsein der Adressaten allmählich zur eigentlichen Realität wird. Man nennt das in der globalen Politik Umerziehung durch Hirnwäsche und Demagogie. Dafür baut man große Lager, und damit bereitet man Kriege vor oder führt sie mit großer Anhängerschaft, wie wir aktuell erleben.
    Die Opfer in Familien sind die Kinder. Sie fallen zuerst auf dem elterlichen Schlachtfeld, dann folgen die Großeltern, Freunde und Verwandten, bis die Welt gereinigt ist und der totalitäre Anspruch des entfremdenden Elternteils durchgesetzt ist, der im wahrsten Sinn des Wortes die Erziehungsgewalt als seelische und soziale Gewalt missbraucht. In den scheidungsbegleitenden Professionen finden sich manche willigen Helfershelfer der Entfremdung, die manchmal nicht wissen, was sie tun, oder – was sehr viel gefährlicher ist – zwar wissen, was sie tun, sich aber verpflichtet fühlen, gewisse oft sehr emotional geladene soziale Ideologien vorrangig durchzusetzen und dabei die ihnen schutzbefohlenen Kinder übergehen.
    Aus einem einst primär äußeren Kontaktverbot wird damit schließlich ein verinnerlichtes. Die emotionalen Brücken zum ausgegrenzten Elternteil fallen. Das verinnerlichte Kontaktverbot schafft mit der Zeit eine Art betäubte Stelle in der Seele gegenüber dem Verlorenen und besteht unterschwellig und oft ein Leben lang fort. Die pathologisch entfremdeten Kinder kommen oft nicht mehr, wenn sie älter werden und ein eigenes Smartphone haben, auf den ausgegrenzten, den entsorgten Elternteil zu und machen sich neugierig auf Wahrheitssuche. Dies wird gerne als gutgemeinter Tröstungsversuch angeboten, löst sich leider aber nicht so häufig ein wie erhofft.
    In den vergangenen Jahren nahm ich immer wieder Patientinnen und Patienten meist erst jenseits der 30 in Therapie, wenn es um die Frage von Partnerschaft und der eigenen Familiengründung ging.
    Gemeinsam war ihnen eine parasitäre Dyade mit dem betreuenden Elternteil, meist Müttern, in geringerer Zahl auch Vätern, die von Hass bestimmte Ausgrenzung des aushäusigen Elternteils, der angeblich oder tatsächlich in seiner Familienrolle schwer versagt hätte, und die systematische Vereitelung weiterer sozialer Kontakte zu ihren verstoßenen Vätern oder Müttern. Die Symptomatik der jungen Patientinnen ähnelte sich in Form erheblicher, wiederkehrender depressiver Episoden, chronischer Kontakt- und Beziehungsstörungen mit dem Ergebnis immer wieder scheiternder Beziehungen. Aber nicht einmal die therapeutische Bearbeitung der entwicklungsfeindlichen Symbiose mit der primären Bindungsperson und die Gewinnung zunehmender adulter Autonomie führte zum erwartbaren Wunsch, die jeweils noch lebenden Elternteile zu klärenden Kontaktgesprächen aufzusuchen und deren Geschichte zu hören.
    »Verlorene Zeit, ich habe zu meinem Pizzabäcker mehr Gefühlskontakt als zu meinem leiblichen Vater, auch wenn ich heute weiß, dass Mutter mich hinten und vorne angelogen hat«, hörte ich eine von ihnen sagen und notierte mir ihre Aussage, weil sie so bezeichnend und repräsentativ ist. Sie vernichtet die Hoffnung vieler ausgegrenzter Elternteile auf eine glückliche späte Wiederbegegnung mit dem verlorenen Kind. Oft gibt es eben keine Brücke mehr, da ab einem bestimmten Zeitpunkt auch keine gemeinsam gelebte Biographie besteht. Über welche Erinnerungen, welche gemeinsame Ferien und Geburtstage sollte man denn reden? Es gab keine.
    Die Biographien zerstörende Wirkung der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung spiegelt sich nicht nur wider in der seelischen Symptomlast der Kinder. Sie durchzieht die Biographie der Betroffenen bis ins hohe Alter.
    Ein Handwerksmeister in einer depressiven Bilanzkrise jenseits der 60 revidierte sein Leben und suchte nach der Quelle seiner Depressionen. Der Vater war früh im Scheidungsprozess der Eltern verlorengegangen. Er und sein Bruder hatten die Berichte der Mutter über den „schrecklichen Menschen“ nie angezweifelt. Als sie nach Mutters Tod den Nachlass ordneten, fielen den Brüdern viele Dokumente, Briefe, Fotos und Schriftstücke in die Hände, aus denen eine andere Wahrheit sprach.
    Depression wandelte sich in Trauer und viele alte ungeweinte Tränen. Der Handwerksmeister schrieb dem längst verstorbenen Vater einen Liebesbrief und steckte ihn die Graberde.
    »Sie sterben den lebenden Tod des Herzens« spricht Prof. Richard Gardner, der amerikanische Kinderpsychiater, der das Parental Alienation Syndrom konzeptualisiert hatte, beim Blick auf das Schicksal der ausgegrenzten Elternteile.
    Vergessen wir also nicht das Leiden der um ihre Kinder gebrachten Eltern, Großeltern, Verwandten und Freunde, die eine deutlich erhöhte Selbstmordrate aufweisen gegenüber der Durchschnittsbevölkerung, eine hohe Inzidenz zu Depressivität, Sucht, psychosomatischen Erkrankungen und chronischen Schmerzsyndromen. (s. Ester Katona, Freiburg 2008)
    Wird die Naturwissenschaft zum neuen Kompass?
    Die Bioinformatik hat die Unentbehrlichkeit des Kontakts eines Kindes zu beiden Elternteilen nunmehr naturwissenschaftlich unterlegt. Ein leiblicher Elternteil ist nicht austauschbar gegen einen „sozialen“ Elternteil, zumindest nicht ohne erhebliche Einbußen an kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Anders als Stiefmutter, Stiefvater oder Pflegeeltern verfügen nur die beiden biologischen, die natürlichen Eltern, über den Schlüssel zum epigenetischen Gedächtnisspeicher, der unserer DNS aufgeprägt ist und den Schatz erworbener Erfahrungen im Umgang mit unserer genetischen Ausstattung enthält.
    Er bildet auch die Grundlage für die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen, leider auch der traumatischen, und zwar irreversibel.
Dieser Schlüssel, mit dem es den optimalen und effizientesten Umgang mit seiner epigenetischen Ausstattung einüben kann, steht dem Kind dann nicht zur Verfügung, wenn leibliche Elternteile nicht präsent sind.
    Damit steht ein neuartiges Paradigma zur Bestimmung von kindeswohlgerechten Weisungen im Raum, das nicht mehr übergangen werden kann.
Der Bioinformatiker Prof. Peter Beyerlein (TH Wildau, Brandenburg) hat dies sehr detailliert erforscht und wissenschaftlich beschrieben.