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Eltern-Kind-Entfremdung

Ein Problem mit einer langen Historie

1980
Eltern-Kind-Entfremdung und entfremdendes Verhalten ist kein neues Phänomen – es hat es schon immer gegeben. Erstmals breiter diskutiert und wissenschaftlich beschrieben wurde die Eltern-Kind-Entfremdung in den 1980er Jahren durch den US-amerikanischen Kinderpsychiater Prof. Richard Gardner. Dieser beschrieb anhand von 99 von ihm untersuchten Fällen Merkmale und Verhaltensweisen, welche er dem Fachbegriff „Parental Alienation Syndrom“ (PAS) gab.

Prof. Gardner definierte drei Hauptmerkmale, die nach seinen Erkenntnissen vorliegen müssen, damit PAS vorliegt:

  • Ablehnung oder Verunglimpfung eines Elternteils, die das Ausmaß einer Kampagne erreichen, das heißt andauernd und nicht nur als gelegentliche Episode.
  • Die feindselige Ablehnungshaltung ist irrational und die Entfremdung ist nicht eine angemessene Reaktion auf das Verhalten des abgelehnten Elternteils. Sie beruht nicht auf tatsächlich gemachten negativen Erfahrungen mit dem zurückgewiesenen Elternteil.
  • Sie ist Teilresultat des Einflusses des entfremdenden Elternteils und/oder anderer wichtiger Bezugspersonen.

Zusätzlich definierte er acht Symptomatiken, die in PAS-Fällen zu beobachten seien, aber nicht alle in jedem Fall beobachtet werden müssen:

  • Unbegründete Zurückweisungs- und Verunglimpfungskampagnen
  • Absurde Rationalisierungen (ungerechtfertigte, absurde Begründungen für Ablehnungshaltung).
  • Fehlen normaler Ambivalenz (Idealisierung des einen Elternteils, Verteufelung des Anderen, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken).
  • Reflexartige Parteinahme für den programmierenden Elternteil.
  • Ausweitung der Ablehnung auf die gesamte Familie und das Umfeld des zurückgewiesenen Elternteils.
  • Das Phänomen der „eigenen Meinung“ (Betonung der „eigenen Meinung“ und des „eigenen Willens“).
  • Verleugnung von Schuldgefühlen über die Grausamkeit gegenüber dem entfremdeten Elternteil (der entfremdete Elternteil wird nach außen „eiskalt“ und ohne Gefühlsregung zurückgewiesen).
  • Übernahme „geborgter Szenarien“ (gleiche Vorwürfe wie diese der entfremdende Elternteil vorbringt, häufig ohne, dass das Kind diese selbst miterlebt hat).

Prof. Gardners Veröffentlichungen führten zu heftigen Diskussionen, ob es PAS gebe oder nicht. Er wurde heftig kritisiert, da seine Arbeit erhebliche methodische Fehler in der Bewertung der Kausalitäten aufwies. Zusätzlich gab es Kritik an der Annahme, dass es sich um ein Syndrom, also um eine Krankheit, handeln würde. Zunehmend widmeten sich weitere Wissenschaftler der Eltern-Kind-Entfremdung. Dabei stellte sich bald ein breiter Konsens ein, dass es sich bei Eltern-Kind-Entfremdung um kein „Syndrom“ handle. Prof. Gardners Symptomatiken wurden aber ebenso wie seine drei Hauptmerkmale in der Tat immer beobachtet und stellen auch heute noch die Basistheorie der Eltern-Kind-Entfrremdung dar. In der Begrifflichkeit zeichnete sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren im englischsprachigen Raum ab, dass der Begriff „Parental Alienation“ eine breitere Anerkennung und Verwendung erfuhr.

1998
Im deutschsprachigen Raum nahm die Diskussion Ende der 1990er Jahre an Intensität zu. Dies wurde begleitet mit ersten Veröffentlichungen und wissenschaftlichen Arbeiten zur Eltern-Kind-Entfremdung. Eine der ersten Veröffentlichungen ist der Aufsatz The Parental Alienation Syndrom – PAS in Der Amtsvormund von 1998. In diesem Aufsatz beschrieben die Psychologin Ursula Kodjoe und Dr. jur. Peter Koeppel erstmals ausführlich die Eltern-Kind-Entfremdung aus psychologischer Sicht und ordneten sie rechtlich, auch mit Blick auf die US-amerikanische Rechtsentwicklung, ein. Der Aufsatz endet mit einer Schlussbemerkung der Autoren, die Aktualität nichts verloren hat: „Das hier vorgestellte Parental Alienation Syndrome (PAS) wie auch die richterlichen und teilweise bereits gesetzlichen Antworten darauf stammen ausschließlich aus angelsächsischen Ländern. Die in Deutschland lebenden Kinder unterscheiden sich von den Kindern aus Ländern mit angelsächsischer Rechtskultur zwar in ihrer kulturell bedingten Sozialisation, jedoch nicht in ihrem emotionalen Grundbedürfnis nach einer von Liebe getragenen lebenslangen Beziehung zu beiden Elternteilen. Somit sind die von Gardner et al. erarbeiteten Erkenntnisse auf unser Land übertragbar. Auch bei uns sollten die Kinder durch Gesetz und Rechtsprechung konsequenter als bisher davor geschützt werden, durch PAS nachhaltige Schäden in ihrer Entwicklung zu erleiden.“

1999
Im Jahr 1999 hielt Prof. Uwe Jopt anlässlich einer Tagung zum Thema „Kindeswohl und Elterntrennung“ den Vortrag Ein Zwei-Phasen-Modell zu PAS. Dabei setzte er sich ausführlich mit der Diskussion um PAS, welche hochemotional geführt wurden, auseinander. Prof. Jopt differenzierte PAS in Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen von kindlicher Ablehnung und Reaktionen. Aufgegriffen wurde die Hilflosigkeit des Helfersystems im Umgang mit PAS. Es werden häufig schicksalhafte Fehlentscheidungen getroffen, die auf dem bedingungslos geäußerten Kindeswillen basieren, aber in solchen Fällen ein manipulierter Kindeswille sind, dem zum Schutz der Kinder nicht bedingungslos gefolgt werden darf.

2002
Der Düsseldorfer Psychologe und Soziologe Dr. Walter Andritzky veröffentlichte 2002 einen Artikel unter dem Titel Verhaltensmuster und Persönlichkeitsstruktur entfremdender Eltern: Psychosoziale Diagnostik und Orientierungskriterien für Interventionen, welcher sich intensiv mit der Erkennung entfremdenden Verhaltens, Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern und des daraus folgenden Verhaltens von Kindern beschäftigte. Zur selben Zeit veröffentlichte er im Deutschen Ärzteblatt einen Artikel mit dem Titel Nicht instrumentalisieren lassen, in dem eindringlich darauf hingewiesen wurde, dass häufig auch Fachkräfte, Ärzte und Therapeuten von entfremdenden Elternteilen beeinflusst werden, um entfremdende Eltern zu unterstützen.

Der Würzburger Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. Wilfrid von Boch-Galhau gab zu dieser Zeit erstmals eine deutsche Übersetzung von Gardners Arbeiten heraus und veröffentlichte selbst den umfangreichen Fachartikel „Die induzierte Eltern-Kind-Entfremdung“. Dieser differenzierte, was unter Eltern-Kind-Entfremdung zu verstehen ist und was nicht. Das Thema wurde unter psychologischen und psychiatrischen sowie therapeutischen Aspekten erläutert und gab einen Einblick in die bis dahin bestehende Rechtsprechung sowie den internationalen Forschungsstand. Von Boch-Galhau ist auf das Thema Eltern-Kind-Entfremdung aufmerksam geworden, weil in seiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis immer mehr, häufig erwachsene, Scheidungskinder mit häufig erheblichen psychischen und psychosomatischen Beschwerden vorstellig wurden. Diese waren ursächlich auf den Verlust eines Elternteils nach der Trennung zurückzuführen.

2005
Dr. von Boch-Gahlau war es auch, der verstärkt ausländische Forschungsergebnisse im deutschsprachigen Raum zugänglich machte. So wurde unter seiner Mitwirkung 2005 im Zentralblatt für Jugendrecht ein Artikel des amerikanischen Wissenschaftlers Prof. Richard A. Warshak veröffentlicht, welcher die Beziehung zwischen Eltern-Kind-Entfremdung und Sozialwissenschaften beleuchtete. Dort wurde zu Sachlichkeit statt Polemik aufgerufen – ein Appell, welcher bis heute Gültigkeit hat.

2008
Im Jahr 2008 wies Dr. Amy Baker auf 17 entfremdende Verhaltensweisen hin, welche in den von ihr und ihren Kollegen immer wieder in Fällen elterlicher Entfremdung beobachtet werden konnten. Diese Verhaltensweisen waren:

1. Schlechtreden
2. Kontaktreduzierung
3. Störung der Kommunikation
4. Verhinderung symbolischer Kommunikation
5. Liebesentzug
6. Dem Kind sagen, der andere Elternteil wäre gefährlich
7. Das Kind zwingen zu entscheiden
8. Dem Kind sagen, dass der andere Elternteil es nicht mehr lieben würde.
9. Das Kind bezüglich der Belange der Erwachsenen ins Vertrauen ziehen.
10. Das Kind dazu nötigen, den anderen Elternteil abzuweisen.
11. Das Kind anhalten, den anderen Elternteil auszuspionieren.
12. Das Kind bitten, Geheimnisse vor dem anderen Elternteil zu bewahren.
13. Den anderen Elternteil beim Vornamen nennen.
14. Einen Stiefelternteil als „Mama“ oder „Papa“ bezeichnen und das Kind dazu anhalten, dies ebenfalls zu tun.
15. Medizinische, schulische oder andere wichtige Informationen vorenthalten, den Namen des anderen Elternteils auf Dokumenten nicht angeben.
16. Den Namen des Kindes ändern, um die Verbindung zum anderen Elternteil zu reduzieren.
17. Abhängigkeiten kultivieren und die Autorität des anderen Elternteils untergraben.
Diese können ausführlich hier nachgelesen werden.

Im selben Jahr wurde in Deutschland der Film Der entsorgte Vater von Douglas Wolfsperger uraufgeführt und 2009 in die Kinos gebracht. Hier wurde erstmals einen breiten Publikum ein Einblick in die Auswirkungen von Eltern-Kind-Entfremdung gegeben. Es wurde die seelische Not der entfremdeten Eltern, aber auch die Untätigkeit und das aktive Mitwirken von Fachkräften an Eltern-Kind-Entfremdung aus subjektiver Sicht dargestellt. Es wurde fühlbar, spürbar und war damit nicht mehr nur ein Begriff, sondern etwas, was tatsächlich mit Menschen und deren Gefühlen und Emotionen verbunden war.

2009
Im Jahr 2009 veröffentlichte Dr. Katarina Behrend ihre Dissertation Kindliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht. Entwurf einer Typologie. Sie setzte sich darin ausführlich mit Prof. Gardners Theorien und Erkenntnissen und auch der daran geäußerten Kritik auseinander. Ergänzt wurde dies um eigene empirische Untersuchungen und den Versuch einer Typologie. Dr. Behrend unterschied dabei drei Typen:

1. Streitmeidung

2. Instrumentalisierte Loyalität

3. Kränkung und seelische Verletzung des Kindes

Dr. Behrend geht ausführlich auf Interventionsmöglichkeiten bei den verschiedenen Typen und deren aus ihrer Sicht vorhandenen Grenzen ein. Die Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Liselotte Staub betrachtete Kontaktwiderstände des Kindes nach Trennung der Eltern: Ursache, Wirkung und Umgang (mehr) und ging ausführlich auf eine differenzierte Betrachtungsweise ein und mahnte an, dass in Fällen elterlicher Entfremdung nicht pauschal dem gesprochenen Wort des Kindes gefolgt werden soll, sondern dem Ursprung der kindlichen Äußerung nachgegangen werden muss. Ausführlich geht sie auf die Auswirkungen elterlicher Entfremdung auf die Kinder ein. Während im deutschsprachigen Raum noch kontrovers über das ob und wie von Eltern-Kind-Entfremdung diskutiert wurde, war man im englischsprachigen Raum bereits weiter und entwickelte konkrete Programme zur therapeutischen Bearbeitung von Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung.

2010
So hatte Dr. Richard A. Warshak das Programm Family Bridges entwickelt und ab etwa 2010 in zahlreichen Fällen angewandt. In Zusammenarbeit mit Gerichten und Therapeuten wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Entfremdung zu bearbeiten und im Idealfall dem Kind eine Zukunft mit beiden Eltern zu ermöglichen. Obwohl das Kernelement von Family Bridges lediglich ein 4-tägiger Workshop war, konnte die Entfremdung in nahezu allen Fällen, in denen die Grundsätze des Programms beachtet wurden, rückgängig gemacht werden. In dieselbe Richtung ging das von Linda Gottlieb entwickelte Programm Turning Point for Families (TPFF), welches verstärkt auf die familiären Heilungsprozesse innerhalb eines strukturierten Prozesses setzte. In Großbritannien wurde nach jahrelanger Erfahrung von Karen und Nick Woodall die Family Separation Clinic (mehr) gegründet, in welcher ebenfalls über strukturierte Programme mit Eltern und Kindern gearbeitet wurde.

2018
Im Jahr 2018 war es erneut Dr. Wilfrid von Boch-Galhau, der im deutschsprachigen Raum einen umfassenden Überblick über internationale Forschungsergebnisse und Therapiemöglichkeiten sowie deren Evaluierung lieferte. In seinem Artikel Parental Alienation (Syndrom) – Eine ernst zu nehmende Form von psychischer Kindesmisshandlung ging er ausführlich auf die Historie der Eltern-Kind-Entfremdung und deren wissenschaftliche Diskussion ein. Die Eltern-Kind-Entfremdung wurde als eine Form der Kindesmisshandlung typisiert. Mittlerweile gab es weltweit rund 1.300 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung. Dr. von Boch-Galhau war mit dieser Einschätzung nicht allein.

Die Ärzteleitfäden in Bayern und Baden-Württemberg weisen entfremdendes Verhalten und den Missbrauch von Kindern in partnerschaftlichen Konflikten schon lange als Sonderformen seelischer Misshandlung aus.

2019
Im Jahr 2019 sorgte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Entscheidung gegen die Republik Moldawien (Entscheidung 23641/17 vom 29. 10. 2019, deutsche Kommentierung und Übersetzung, Fachaufsatz zur Entscheidung) für Aufsehen. Erstmals wurde auf dieser Ebene Eltern-Kind-Entfremdung offiziell als Kindesmissbrauch verurteilt. Festgestellt wurde auch, dass staatliche Behörden eine aktive Pflicht haben, Eltern-Kind-Entfremdung zu verhindern. Die Behörden waren lange untätig und ließen zu viel Zeit verstreichen. Die ergriffenen Maßnahmen wurden als unzureichend eingeschätzt. Diese Entscheidung ist nicht nur für Moldawien, sondern für alle europäischen Staaten, bindend. Der Film Weil Du mir gehörst wurde 2019 erstmals aufgeführt. Der Spielfilm nach dem Drehbuch von Katrin Bühling bietet einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten, in die Mechanismen der Eltern-Kind-Entfremdung, der Hilflosigkeit des entfremdeten Elternteils und der Ratlosigkeit der Fachkräfte mit den Auswirkungen umzugehen. Der Spielfilm wurde am 12. Februar 2020 in der ARD ausgestrahlt und zog ein enormes Medienecho nach sich. Viele Menschen, die selbst betroffen waren und es vielleicht erst durch den Film anfingen zu verstehen, meldeten sich zu Wort. Der Film hat erstmals in Deutschland das Thema Eltern-Kind-Entfremdung einem breiten Publikum erlebbar und fühlbar gemacht und wurde dafür mehrfach mit Filmpreisen ausgezeichnet. Eine ausführliche Beschreibung des Films kann hier nachgelegen werden.

2020
Im Jahr 2020 wurde auch die WDR-Dokumentation Scheidungskinder: Wenn die Trennung der Eltern zum Krieg wird ausgestrahlt, welche anhand von Experten und Protagonisten auf die alltäglichen Auswirkungen der Eltern-Kind-Entfremdung eingeht.

2021
Im Jahr 2021 stellte der Verein Väteraufbruch für Kinder im Rahmen seiner Wahlprüfsteine den Parteien die Frage, welche Konzepte sie zur Verhinderung von Eltern-Kind-Entfremdung hätten und wie Kinder vor psychischer Gewalt durch Eltern-Kind-Entfremdung besser geschützt werden könnten. Die Antworten zeigten, dass keine Partei sich des Problems bisher überhaupt bewusst ist. Im selben Jahr verurteilte der europäische Gerichtshof für Menschenrechte sowohl Italien als auch die Ukraine wegen Verletzungen der Menschenrechte, da sie keine adäquaten Maßnahmen zur Verhinderung von Eltern-Kind-Entfremdung ergriffen hatten. Diese Auflistung stellt nur einen Überblick wesentlicher Meilensteine in Bezug auf Eltern-Kind-Entfremdung dar. Der weitaus größte Teil der Forschung und auch die Entwicklung der Rechtsprechung und Therapie findet bis heute in anderen Ländern, vor allem im englischsprachigen Raum, statt. Einen guten Überblick bietet hier die Parental Alienation Studie Group, welche umfangreiche Informationen zum Thema zusammengestellt hat.

2022

Eltern-Kind-Entfremdung rückt mehr und mehr in den Fokus von Wissenschaft und Praxis. Kritische Stimmen, welche weiterhin versuchen, die Existenz von Eltern-Kind-Entfremdung zu leugnen, verstricken sich zunehmend in Widersprüche (siehe entsprechenden Exkurs zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung). Zum aktuellen Forschungsstand wurde eine umfangreiche wissenschaftliche Ausarbeitung von Harman, Warshak, Lorandos und Florian veröffentlicht (Developmental psychology an scientific status of parental alienation). Im Ergebnis stellen sie fest, „dass die PA-Forschung über ein frühes Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung hinausgewachsen ist und eine wissenschaftlich vertrauenswürdige Wissensbasis geschaffen hat“.

Wie solche Erkenntnisse in die Praxis überführt werden können, damit setzte sich der multiprofessionelle Fachaufsatz „Zur Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung“ (Baumann, Michel-Biegel, Rücker, Serafin, Wiesner) auseinander. Ausführlich wird dargestellt, wie in den verschiedenen Stadien der Eltern-Kind-Entfremdung Unterstützung für Eltern und Kinder geleistet werden kann und muss. Ebenso wird dargestellt, wie interveniert werden muss, wenn die reine Unterstützung nicht mehr ausreichend ist und Kinder vor psychischem Missbrauch durch Eltern-Kind-Entfremdung geschützt werden müssen.

Dieser Artikel stellt einen Meilenstein in der Fachdebatte zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung dar und wird die Fachdiskussion um Lösungsansätze deutlich voranbringen. Neben fachlichen Maßnahmen ist aber auch der Gesetzgeber gefragt, zu handeln. Hier endet der Fachartikel mit einem überaus deutlichen Appell an den deutschen Gesetzgeber.

„Die Untätigkeit des Gesetzgebers ist als Verstoß gegen die Vorgaben von Art. 8 EMRK zu werten, der nicht nur eine Umsetzung des Beschleunigungsgebots und kindeswohlverträgliche Verfahren zum Vollzug familiengerichtlicher Entscheidungen verlangt, sondern auch den Einsatz von Beratung, Coaching und Therapie im Kontext familiengerichtlicher Verfahren zur Bearbeitung des Konflikts auf der Ebene der beiden Elternpersonen. Die Untätigkeit des Gesetzgebers ist darüber hinaus auch als Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 3 UN-KRK zu betrachten.

Bundestag, Bundesregierung und Länder sind daher als Initiatoren für ein Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 Abs. 1 GG) gefordert, sich dieses Themas anzunehmen und den menschenrechtswidrigen Zustand des deutschen Rechts an dieser Stelle unverzüglich zu beseitigen. Mit jeder zeitlichen Verzögerung nimmt die Zahl der Kinder zu, deren psychisches Wohlbefinden beeinträchtigt wird und deren Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie auf Schutz vor Gefahren für ihr Wohl (Art. 2 i.V. mit Art. 6 Abs. 2 GG) verletzt werden.“